Einem St. Galler Kantonsrat wird sexuelle Belästigung vorgeworfen. Er ist gestern von sämtlichen Mandaten zurückgetreten und hat auch seine private Anstellung gekündigt. Ich kenne den Sachverhalt nur aus den Medien. Klar bleibt: Sexuelle Belästigung ist ein Straftatbestand, welchen es unbedingt zu ahnden gilt. Ob der Vorwurf eine Person des öffentlichen Lebens betrifft oder einen “normalen” Bürger, spielt keine Rolle.
Was mich hingegen zunehmend stört, ist etwas anderes. Die Einleitung eines Strafverfahrens bedeutet an sich nichts weiter als den Beginn von Abklärungen, welche die Frage nach dem Vorliegen eines deliktisches Verhaltens klären sollen. Damit stehen wir erst am Beginn einer Untersuchung, welche letztlich auch die Unschuld eines Involvierten feststellen kann. Die mediale Berichterstattung erwähnt zwar meist in einem schlichten Nebensatz, dass die Unschuldsvermutung gilt, in Tat und Wahrheit wird durch einen zunehmenden Journalismus in “Wild-West Manier” eine Vorverurteilung betrieben, welche keine Rücksicht nimmt auf die Involvierten oder das private Umfeld. Mit einer einseitig verstandenen Pressefreiheit wird die Unschuldsvermutung zunehmend ad absurdum geführt. Was bedeuten hingegen Berichterstattungen aufgrund von Anschuldigung, die nicht oder zumindest noch nicht verifiziert sind, für eine Familie oder schulpflichtige Kinder eines Verdächtigten? Neben dem eigentlichen Vorwurf gegen eine nahestehende Person muss sich dieses Umfeld zusätzlich mit einem öffentlichen “an den Pranger stellen“ beschäftigen. Bleibt dies verantwortbar vor dem Hintergrund der Unschuldsvermutung? Verdienen Angehörige keinen Persönlichkeitsschutz?
Eine mediale Vorverurteilung ist immer eine menschliche Tragödie, die nicht mehr umkehrbar ist. Falls nachträglich festgestellt werden sollte, dass die Vorwürfe nicht oder nicht in der vorgeworfenen Weise stimmen, ist der Ruf bereits ruiniert und eine Rückkehr ins “normale Leben” praktisch ausgeschlossen. Hier gelten für Personen, die in der Öffentlichkeit stehen, anscheinend andere Spielregeln. Berücksichtigt man in diesem Zusammenhang, dass Menschen, welche auf Milizebene politisch tätig sind, oft viel ehrenamtliches Engagement für die Gemeinschaft leisten, eine durchaus bedenkliche Entwicklung. Ich glaube, gerade die Medien tragen in diesem Kontext eine grosse Verantwortung. Bis eine strafrechtliche Verurteilung vorliegt, sollte eine Berichterstattung zurückhaltend stattfinden, um dem Gedanken der Unschuldsvermutung nachhaltig Rechnung zu tragen. Auch bei sogenannt “Prominenten”, wo das öffentliche Interesse oft als Begründung für eine ausführliche Berichterstattung dient. Ob dieses Interesse bei einem Mitglied eines kantonalen Parlamentes tatsächlich so gross ist, darf immerhin bezweifelt werden. Den Verkaufszahlen von Medienhäusern zum Trotz.
Ich möchte es hingegen nochmals wiederholen: Diese Ausführungen stellen die klare Haltung nicht in Frage, dass strafrechtlich relevante Tathandlungen – sind sie im Rahmen eines Untersuchungsverfahrens bewiesen – selbstverständlich zu verurteilen sind und sich im Übrigen auch nicht mit einem öffentlichen Mandat vereinbaren lassen. Darüber soll auch in aller Deutlichkeit kommuniziert und Bericht erstattet werden.