Die Weihnachtszeit finde ich auch deshalb toll, da man mit seinem Nachwuchs die Verfilmung von zahlreichen Märchen oder Klassikern der Kinderliteratur anschauen kann. Kaum schaltet man das TV-Gerät an, schon wehen die goldenen Haare von Rapunzel oder die lange Mähne des gelehrigen Schimmels von Pippi Langstrumpf über den Bildschirm.
Filmisches Vergnügen und sorglose Unterhaltung also? Weit gefehlt. Kantonale Gleichstellungsbeauftragte haben Erzählungen wie Dornröschen längst auf den Index der kindergefährdenden Literatur gesetzt. Da hilft die Argumentation wenig, dass es sich bei dem literarischen Schaffen der Gebrüder Grimm um deutsches Kulturgut handle. So sei das apfelverspeisende Mädchen ein Sinnbild für die Degradierung der Frau zum Objekt und diene als Stereotyp für ein altertümliches Rollenverständnis. Ferner liefere die Geschichte in der entscheidenden Szene die Legitimation zu sexuellen Übergriffen, in dem der Kuss des Prinzen ohne vorgängige Einwilligungserklärung stattfand. Wobei das Plazet des voraussichtlich hundert Jahre schlafenden Dornröschens wahrscheinlich nur schwerlich einzuholen blieb und der Prinz nach meiner Erinnerung auch nicht selber zur Giftmixtur griff.
Meine Eltern haben mir oft aus Märchenbüchern vorgelesen. Sie handelten von Hexen oder Grossmüttern – die ab und an auch vom bösen Wolf gefressen wurden – und auch von schönen Prinzessinnen. Frei von Zensur lauschten wir mit wachen Ohren den spannenden, aber politisch völlig unkorrekten Erzählungen.
Manchmal frage ich mich, wie ich als Kind der siebziger Jahre diese Zeit der Verwirrung und moralischen Verwerflichkeit – was die zeitübliche Kinderbuchliteratur betrifft – einigermassen unbeschadet überstehen konnte. Weder Dornröschen noch sonst eine Erzählung aus glücklichen Kindertagen liess mich – nach meiner Einschätzung immerhin – ein stereotypes Rollenverständnis entwickeln oder hat mich in der Jugend oder im Erwachsenenalter zu einem unangepassten Kussverhalten motiviert. Wahrscheinlich hatte ich einfach viel Glück.
Nun, heute ist es natürlich einfacher. Die Kinder und Jugendlichen wachsen frei von entwicklungsproblematischer Literatur mit einem “Bachelor” auf, der seinen gehaltvollen Umgang mit dem weiblichen Geschlecht auf der Mattscheibe vorlebt. Oder sie lernen bei seichten Soaps am Fernsehen oder durch die Stars und Sternchen der Sozialmedia-Szene, wie man sich adrett verhält.
Mir persönlich waren die Kinderbücher lieber. Sogar die indexierten wie Dornröschen. Manchmal frage ich mich wirklich, wohin sich unsere Gesellschaft nur entwickelt.